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von She'sejia » Mo, 09. Dez 2019 14:30
Schon mehrere Wochen war She’sejia unterwegs und langsam aber sicher begann sie an ihrer zugegeben etwas überstürzten Entscheidung, den fremden Steppenreiter zu verfolgen, zu zweifeln. Wobei der Steppenreiter, sollte ihre Vermutung richtig sein, keineswegs ein Fremder war. Doch der Gedanke, dass es ihre Fieberträume gewesen waren, die ihr Jerrans Gesicht vor Augen geführt hatten, wurde immer stärker.
Nachdem sie und Kékulé von den Steppenreitern gerettet wurden, war sie ein paar Tage kaum bei Bewusstsein gewesen. Ihre Wunde hatte sich entzündet und obwohl die Schamanin des Stammes sie hatte heilen können, hatte She’sejia mehrere Tage im Bett verbracht. Während dieser Tage meinte sie, in einem ihrer wenigen, verschwommenen wachen Momente, ein bekanntes Gesicht gesehen zu haben. Es hatte sich so stark in ihre Gedanken gebrannt, dass sie nach ihm suchte, sobald sie wach und wieder auf den Beinen war. Sie würde ihn immer erkennen, selbst mit Bart und Narben, die sie nicht kannte, und obwohl er als Mensch in den Jahren weit mehr gealtert war als sie.
Doch sie hatte ihn nicht gefunden und niemand kannte jemanden, der Jerran hieß. Es sei zwar vor mehreren Jahren ein Fremder zu ihnen gestoßen, doch vor ein paar Tagen habe er sie unerwartet verlassen und sei nach Westen gezogen. She’sejia, die sein Gesicht, anders und doch so vertraut, noch deutlich in Erinnerung hatte, war sich sicher, dass dies Jerran war. Sie verließ ihre neuen Gefährten und folgte Jerran nach Westen.
Die Steppenreiter hatten ihr all ihre Habseligkeiten – und wichtiger noch: Anion – wiedergegeben und so hetzte sie nach Westen. In Massaq, wo sie den Großen Strom überquerte, berichteten ihr die Menschen von einem Beraij in Steppenreiter-Kleidung, der ins Gebirge im Nordwesten gezogen war. Sie folgte ihm ins Sharzíkad-Gebirge und mit jedem kleinen Dorf, durch das sie ritt, kam sie ihm näher. Doch dann, als er ihr nur noch einen Tag voraus war, verlor sie seine Spur. Sie war nun im nordwestlichen Teil des Gebirges, der sehr dünn besiedelt war, und begann an ihrem Vorhaben zu zweifeln. Sie konnte es immer weniger verstehen, warum sie ihm gefolgt war und was sie tun wollte, wenn sie ihn tatsächlich einholte. Was, wenn es gar nicht Jerran war? Dann war sie ganz umsonst in diese Ecke der Welt gekommen. Und was, wenn er es tatsächlich war? Was wollte sie dann tun? Sich an ihm rächen? Sollte sie eine Kompensation oder Entschuldigung verlangen? Sich selbst beweisen, dass er sie nicht mehr so manipulieren und verführen konnte? Ihn töten? Nichts tun? Sie hatte Kékulé und Mira verlassen, um diesem Mann zu folgen. Obwohl sie wenig mit Kékulé gesprochen hatte und die beiden kaum kannte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie vielleicht gute Freunde werden könnten. Sie hatte oft sich selbst in Kékulé gesehen und sie als Kriegerin respektiert. Wofür hatte sie die beiden nun verlassen?
Da saß sie nun, bemüht ihren Körper von der kalten Nacht zu erwärmen und unsicher, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Sie musste aber spätestens zum Abend im nächsten Dorf sein. Einerseits, um sich wärmere Kleidung für die kalten Nächte (und Tage) des Gebirges zu besorgen und andererseits, weil ihr Proviant knapp wurde. So machte sie sich mit Anion auf und folgte dem Weg, den man ihr im letzten Dorf gezeigt hatte, weiter nach Nordwesten.
Die Stimmung in dem Dorf hatte etwas Bedrücktes. Irgendetwas musste geschehen sein, oder etwas verunsicherte oder verängstigte die Bewohner, doch She’sejia fragte nicht danach, zumindest noch nicht. Sie fragte Bitala, die Frau, die sich ihrer angenommen hatte, nach Proviant und Kleidung. Wenn sie zahlen könne, würde sie beides bekommen, versicherte die Frau, die Augen nicht von ihren Säbeln lassend. Sie war misstrauisch, so viel war klar, aber zumindest nicht ängstlich oder feindselig. She’sejia bezweifelte stark, dass das wenige Geld, das sie bei sich hatte, eine Währung war, mit der hier gehandelt wurde. Die Münzen stammten aus den Nordreichen und der Cala an Darh. Geld aus Kamîrush hätte vielleicht funktioniert, aber nichts, das sie anzubieten hatte.
„Ist in der letzten Zeit ein Fremder in euer Dorf gekommen?“, fragte sie also und hoffte, dass ihr Besuch nicht vollkommen umsonst war. „Ein Mann? Es ist einer bei uns, ja. Er wird aber bald aufbrechen, vielleicht ist er aber schon fort.“, berichtete Bitala mit einem Schulterzucken.
„Wirklich?“, stieß She’sejia in plötzlicher Aufregung hervor. Nach der wochenlangen Suche und Jagd erschien es ihr unwirklich, ihr Ziel endlich zu erreichen. „Wie heißt er? Wo ist er? Können Sie mich zu ihm bringen?“, sagte sie, lauter diesmal, aber noch immer offensichtlich aufgeregt. Bitala hob eine Augenbraue und zuckte dann mit den Schultern. „Er nennt sich Hund. Folge mir“, sagte sie knapp und ging der Elfe voraus durchs Dorf. She’sejia runzelte die Stirn. Es passte gar nicht zu dem Jerran, den sie kannte, sich Hund zu nennen, obwohl es ein wirklich passender Name war, dachte sie und spürte wie der alte Groll sich in ihr regte. Andererseits hatte sie ihn nie wirklich gekannt.
Die Frau verschwand schließlich in einer, verglichen mit den umstehenden Hütten, etwas größeren Hütte und hielt She’sejia die Tür offen. „Er ist noch da. Sieh!“, sagte Bitala und deutete auf einen Mann in der Mitte des Raumes, der von mehreren Frauen umgeben war. Er hatte einen Stock in der Hand und war blass. Er hatte einen kahlen Kopf und ihr fielen braune Formen an seinem Hals auf. Es hätte deutlicher nicht sein können, dass dies nicht Jerran war. Es war mit ziemlicher Sicherheit nicht einmal der Steppenreiter (oder Beraij), dem sie die letzten Wochen gefolgt war. Sie war endtäuscht und, seltsamerweise, erleichtert zugleich. „Das, ah… Das ist nicht der Fremde, den ich suche…“, raunte sie Bitala zu. Trotzdem verstummten die Frauen und sahen sich nach den Neuankömmlingen um. „Wer ist das?“, fragte eine der Frauen – die wohl Älteste von ihnen – Bitala.
„Sie ist vor kurzem angekommen. Sie ist eine Reisende.“, erklärte Bitala mit einer gewissen Ehrfurcht. Ein Raunen ging durch die Frauen, die die Elfe alle wie Bitala mit mehr oder weniger starkem Misstrauen musterten. „Sie ist eine Kriegerin! Sieh ihre Waffen!“, sagte eine und eine andere zeigte sogar auf sie: „Ihre Ohren, was sind das für Ohren?“, eine andere flüsterte: „Und ihre Augen! Rote Augen…“
Mit einem Blick der Frau, die Bitala nach She’sejia gefragt hatte, verstummte das Raunen. „Und ihr Name? Was will sie hier?“, fragte sie Bitala. „Sie sagte Elyria und sie hat nach Kleidung und Proviant gefragt und… ob ein Fremder im Dorf sei also habe ich sie hergebracht.“, berichtete Bitala.
„Elyria“, sprach die alte Frau nun She’sejia an. Es war seltsam wieder mit ihren Geburtsnamen angesprochen zu werden, doch weil Jerran den Namen nicht kannte, hatte sie sich die letzten Wochen damit vorgestellt. „Sie suchen nach einem Fremden? Es kommen nur wenige Fremde hierher… Ist dies der Mann den Sie suchen?“, damit deutete sie auf den Mann mit dem Stab. She’sejia schüttelte den Kopf. „Nein… der Mann den ich suche ist ein Beraij aus der Wüste im Süden, jenseits des Großen Stroms. Ein Mann mit dunklerer Haut, schwarzen Haaren und braunen Augen.“, antwortete sie, „Er muss… er ist wohl irgendwo anders hingegangen…“. „Können Sie kämpfen?“, fragte die Frau weiter. She’sejia nickte. „jagen?“, fragte die Frau weiter. She’sejia schüttelte verneinend den Kopf. „Eine Kriegerin, tatsächlich…“, murmelte die Alte daraufhin und verfiel kurz in ein nachdenkliches Schweigen. „Sie kann doch-“, hob eine der Frauen an, doch die Alte unterbrach sie: „Wir könnten Ihnen Kleidung, Proviant und einen Platz für die Nacht anbieten, aber was können Sie uns im Gegenzug geben?“
„Ich glaube nicht dass ich etwas bei mir habe, das für euch von Wert wäre, das ich euch geben könnte.“, gab sie zu, aber die Frau machte den Eindruck, als habe sie mit dieser Antwort gerechnet. „Es gäbe da etwas, dass sie für uns tun könnten...“
Nicht alles, was Gold ist, funkelt,
Nicht jeder, der wandert, verlorn